Die Liebe neu erfinden – ein philosophisch, bunter Ansatz
Was ist eigentlich Liebe?
Eine sehr verbreitete Vorstellung ist die der romantischen Liebe, wonach da immer Gefühle sein müssen, vor allem gute Gefühle, keine Störungen und kein Alltag. Diese romantische Ansicht hat bereits eine lange Geschichte; solche eine Liebe ist allerdings nicht gut lebbar.
Eine andere Vorstellung ist die der atmenden Liebe. Die Liebe erstickt, wenn sie immer nur gute Gefühle bieten soll und immer positiv sein soll. Wenn wir immer nur einatmen wollten, ginge das ebenso wenig, denn ein Mensch muss zweifellos auch ausatmen, wie die Liebe auch.
Atmen kann sie, wenn die Liebenden sich nicht immer nur miteinander, sondern auch mit dem je eigenen Selbst befassen. Atmen kann sie, wenn sie zwischen verschiedenen Ebenen der Liebe hin- und hergehen kann. Und atmen kann sie, wenn sie sich zwischen Gegensätzen – wie Nähe & Distanz, Freude & Ärger, Lüste & Schmerzen, starken Gefühlen & langweiligen Gewohnheiten – bewegen kann.
So kann man auch in einer Beziehung Stabilität und Flexibilität schaffen, indem man mehrere Ebenen nutzt. Zum Beispiel lässt sich den Schwierigkeiten auf einer Ebene durch den Wechsel auf eine andere begegnen. Probleme in der Liebe entstehen, weil nicht immer beide Partner sich auf derselben Ebene befinden.
Lassen Sie mich ein paar Ebenen der Liebe vorstellen und einfärben:
Die körperliche Ebene der Liebe hat wesentlich mit Sinnlichkeit zu tun, mit sinnlichem Sinn und einer Aktivierung aller Sinne. Viele erotische Erfahrungen werden dadurch möglich, den anderen zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken, zu betasten – aus der Nähe oder auch in der Distanz. Darüber hinaus beinhaltet diese Ebene einen Teil, in dem es buchstäblich darum geht, Liebe zu machen: Die Sexualität sorgt für rosarote Stunden. Besser lebbar wird die körperliche Liebe mit der Atmung zwischen Ekstase und Askese.
Die seelische Ebene hingegen hat wesentlich mit Gefühlen zu tun, zusätzlich zur körperlichen oder auch unabhängig von ihr. So geht es seelisch darum, Liebe zu fühlen. Gefühle sind die Sprache der Seele. Vielleicht kann „Seele“ hier die enorme Energie in ein Wort fassen, die die Grundlage des Lebens und der Liebe ist. Menschen sind energetisch bedürftige Wesen. Und mit Gefühlen der Zuneigung und Zuwendung können sie einander Energie zur Verfügung stellen. Gefühlsintensive Zeiten sind die roten Stunden der Liebe. In diesen Stunden, stellt sich die Frage nach dem Sinn nicht mehr. Die atmende Liebe besteht darin, den Gegensätzen von guten und unguten Gefühlen – wie Ärger, Misstrauen, Eifersucht, Zorn, Schmerz, Traurigkeit, Bitterkeit und Hass – Raum zu geben und die Seele sich zur rechten Zeit öffnen oder schließen zu lassen.
Eine dritte Ebene der Liebe ist die geistige. Sie hat wesentlich mit Gedanken zu tun, die nicht dasselbe sind wie Gefühle, auch wenn Gefühle Gedanken „einfärben“ und Gedanken umgekehrt Gefühle beeinflussen. Insbesondere der Austausch von Gedanken macht einen Teil der Liebe aus. Auf der geistigen Ebene ist es möglich, Liebe zu denken und zu deuten. Wenn Ratlosigkeit, Enttäuschung und Verzweiflung überhand nehmen, gibt die geistige Ebene Fragen Raum. Fragen zum Fortbestand der Beziehung, dem Weg, wie es so weit kommen konnte, dem gemeinsamen Weg raus usw. Die blauen Stunden der Liebe dienen der Einübung dieser Ebene. Machen Sie es zum Ritual, den abendlichen Himmel, der Besinnlichkeit anregt, zu nutzen. Plaudern Sie, um gegenseitig von Erfahrungen und Überlegungen zu erzählen, und in die aktuelle Welt des anderen einzutauchen.
Selten gibt es Momente, in denen zwei Menschen eine Dimension „darüber hinaus“ spüren. Beispielsweise bei einem solchen Gespräch, bei dem das Gefühl von Zeit verloren geht. Die gewöhnliche Wirklichkeit wird in dieser Ebene überschritten, man spricht manchmal von Transzendenz. In diesen purpurnen Stunden der Liebe steht die Zeit nicht nur still, sie existiert nicht mehr. Insbesondere am Anfang einer Beziehung, in der Verliebtheit, kennen viele diese Ebene. Aber auch in immer neuer Verliebtheit in derselben Beziehung.
Die Kräfte, die die Liebenden aus solchen Erfahrungen schöpfen können, helfen ihnen bei der Bewältigung des Lebens im Alltag. Ich mag die Haltung zum Alltag, dass er den Rahmen bereit stellt, dass das gemeinsame Leben auch dann weitergehen kann, wenn die Liebe als Gefühl eine Pause macht. Der Alltag ermöglicht die Atmung zwischen ihrer An- und Abwesenheit, wenn die Liebenden eine zeitweise Entzweiung durchzustehen haben oder die Kinder jetzt wichtiger sind. Liebe lebt nicht nur vom Gefühl sondern auch von Gewohnheiten.
Hilfreich ist es, im Alltag die goldenen Stunden zu nutzen, in denen Arbeiten besonders leicht von der Hand gehen. Dann können Sie die gesparte Zeit wieder als Liebespaar verbringen. Quantitativ überwiegen jedoch sicher die grauen Stunden den Alltag.
Kontraste bieten aber rosarote Stunden mit erotischen Begegnungen, rote Stunden der starken Gefühle, blaue Stunden der intensiven Gespräche, die purpurnen Stunden der völligen Selbstvergessenheit und auch möglichst viele lindgrüne Stunden der einfachen Zufriedenheit. Mit dieser bunten Farbpalette gelingt es am ehesten, die hoffentlich seltenen gelben Stunden der Eifersucht und schwarzen Stunden aller Art durchzustehen, die die Farbenlehre der Liebe erst komplettieren.
Und wenn die Liebe dennoch endet?
Das ist leider nie ganz auszuschließen und der, der zurückbleibt muss die Phasen des Entliebens durchlaufen, quasi ein Verlieben rückwärts. Es ähnelt stark den Phasen der Konfrontation mit Sterben und Tod, denn entlieben ist ein Sterben. Das Gefühl, von dem größeren Ganzen abgeschnitten zu sein, ist schmerzlich, aber es geht vorbei. Trotz aller Endlichkeit in der Begegnung mit einem anderen Menschen endet die Energie nicht, die unabhängig vom anderen als unendliche Liebe erfahrbar und unzerstörbar ist. Mit jedem Ende beginnt etwas anderes, auch mit dem Ende einer Liebe:
Auch so atmet die Liebe.